Ein Plädoyer für den Mittleren Weg – Eine buddhistische Perspektive zu Nichtsektierertum

Ein Plädoyer für den Mittleren Weg


Ein tiefgründiger Artikel von Michael-James B. Weaver, der aus philosophischer Sicht erklärt, wie Religionsfreiheit erreicht und bewahrt werden kann und den Standpunkt des tibetischen Meditationsmeisters Geshe Kelsang Gyatso zu diesem Thema untersucht. Er zeigt, wie die Einstellung zu unserem eigenen spirituellen Pfad religiöse Freiheit unterstützen oder behindern kann und kann helfen, dass wir für uns den mittleren Weg auf unserem Pfad finden. Am Ende des Artikels gibt es Erklärungen einiger Fremdwörter.

Wir können uns an der aufrichtigen spirituellen Praxis anderer erfreuen, auch wenn ihr Glauben nicht mit unserem eigenen übereinstimmt. Auf diese Weise ist die zufriedene Praxis der eigenen Tradition der mittlere Weg zwischen Sektierertum und Eklektizismus.

Ein Plädoyer für den Mittleren Weg –
Eine buddhistische Perspektive zu Nichtsektierertum

Die Stärken des Agnostizismus – Toleranz und Offenheit, Fortlaufendes Hinterfragen und Akzeptanz der Ungewissheit – erweisen sich als seine Schwächen. Denn Menschen können sich nicht den Luxus leisten für immer ambivalent zu bleiben. Wir werden immer wieder mit Herausforderungen konfrontiert in denen wir einen Standpunkt beziehen müssen, uns verpflichten müssen oder und unsere Werte verteidigen. Wir müssen hinderliche Zweifel beiseite lassen und uns entscheiden, entweder in der einen oder der anderen Weise zu handeln. Wir müssen bereit sein, eine Reihe von Sprüngen ins Ungewisse zu wagen. – Stephen Batchelor in „Buddhism and Agnosticism“ 12. April 2006

Dies entspricht der gleichen Vorgehensweise, wie ich sie auf meiner Website Empty Mountains: the Two Truths of the Middle Way between Extremes beschrieben habe, und welche uns hilft, alle Unterweisungen Buddhas anhand des Modells des mittleren Weges zu verstehen, dem Prüfstein des buddhistischen Glaubens. Ich habe erkannt, dass es immer eine gemäßigte Position gibt, selbst zwischen den polarisierenden Extremen die gegenwärtig die religiöse Landschaft bestimmen. Sektierertum legt ganz offenkundig zu viel Betonung auf unsere Unterschiede, aber wenn wir wirklich die Vielfalt genießen wollen, dann müssen wir unsere Unterschiede genauso schätzen wollen wie unsere Gemeinsamkeiten. Ein authentischer religiöser Pluralismus würde beide respektieren, nicht nur die einen oder die anderen. Als ich schaute, wo genau sich Geshe Kelsang Gyatso in dieser Spannbreite präsentiert, war ich angenehm überrascht, herauszufinden, dass sein Standpunkt mehr zum mittleren Weg beiträgt als der typische heutige Durchschnitt. Ich habe den nachfolgenden Artikel geschrieben, damit wir besser verstehen können, wie uns Geshe-las tiefgründige Weisheit hilft sowohl Sektierertum als auch Eklektizismus aufzugeben.

Wenn wir einschätzen wollen, ob die Sichtweisen von jemandem sektiererisch oder nichtsektiererisch sind, ist das nicht einfach ein entweder-oder Szenario. Wir müssen uns hüten, solch ein schwarz-weiß Denken zu vermeiden. Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen bloßem Exklusivismus und Sektierertum, obwohl sie beide zum Ziel haben Tradition zu bewahren. Exklusivismus beinhaltet nicht zwangsläufig Sektierertum, denn während Sektierertum eine extreme Form des Exklusivismus ist, sind nicht alle Formen des Exklusivismus sektiererisch! Damit soll gesagt werden, sich ausschließlich auf die eigene religiöse Tradition zu konzentrieren ist nicht an und für sich sektiererisch. Am anderen Ende des Spektrums gibt es eine dubiose Form des Inklusivismus, die sich Eklektizismus* nennt (d.h. sich herauszupicken was man will, auch „mischen“ genannt) womit auch das Nichtsektierertum in ein Extrem getrieben wird.

Wenn es aber in der Tat sowohl gemäßigte als auch radikalere Ausdrucksformen von Exklusivismus und Inklusivismus gibt, wie können wir dann diese subtileren Unterscheidungen sichtbarer machen? Um zwischen ihren gesünderen und ungesünderen Formen zu unterscheiden, können wir die Worte gemäßigt bzw. extrem verwenden (siehe Tabelle). Sektierertum beispielsweise ist ein Zeichen von extremem Exklusivismus, während Eklektizismus ein Hinweis auf extremen Inklusivismus ist. Als extremistische Standpunkte kann keiner dieser beiden gut mit anderen Standpunkten zusammen leben. Der Ort an dem es Toleranz und Gleichheit gibt, ist aber der mittlere Weg:

Eklektizismus                       Religiöse Freiheit ____________Sektierertum


extremer                                 gemäßigter Inklusivismus               extremer
Inklusivismus                       gemäßigter Exklusivismus               Exklusivismus

Worum geht es bei diesem ganzen Gerede von Exklusivismus und Inklusivismus? Für viele Leute  wird jeder Hauch von Ausschließlichkeit bereits als Zeichen von Dogmatismus und religiöser Frömmelei gesehen, wie können wir also auch nur in Betracht ziehen, dass ein gemäßigter Exklusivismus in Harmonie mit Buddhas Unterweisungen ist? Einfach gesagt, gibt es immer zwei Extreme, die den mittleren Weg flankieren. In Anbetracht dessen, dass Sektierertum eines dieser Extreme ist, und falls Eklektizismus der mittlere Weg ist, was genau wäre dann das andere Extrem? Wie wir später sehen werden, gelingt es auch dem Eklektizismus nicht Religionsfreiheit zu beschützen, obwohl dies für westliche Ohren sehr ökumenisch klingt.

„Wir müssen unsere Traditionen nicht vermischen. Jede Tradition hat ihre eigenen außergewöhnlichen guten Qualitäten und es ist wichtig, diese nicht zu verlieren. Wir sollten uns auf unsere eigene Tradition konzentrieren und die guten Qualitäten unserer eigenen Tradition bewahren, aber wir sollten immer gute Beziehungen miteinander bewahren und niemals miteinander streiten oder uns gegenseitig kritisieren. Worum ich bitten möchte ist, dass wir unsere eigenen Traditionen verbessern, während wir gute Beziehungen miteinander bewahren. (Geshe Kelsang Gyatso, An Interview with Geshe Kelsang Gyatso, Tricycle: the Buddhist Review, No. 27, Spring 1998, p. 76)

Der mittlere Weg ist ein Pfad zwischen allen entgegengesetzten Extremen. In diesem Fall sind es die zwei Aspekte des mittleren Weges – nämlich gemäßigter Inklusivismus und gemäßigter Exklusivismus – welche Sektierertum bzw. Eklektizismus korrigieren (siehe obige Tabelle). Der gemäßigte Inklusivismus sagt, dass „Wahrheit vom Kontext abhängt“, während der gemäßigte Exklusivismus sagt, dass es „gültige und ungültige Wahlmöglichkeiten innerhalb eines gegebenen Kontextes gibt“. Zusammengenommen bilden der gemäßigte Inklusivismus und gemäßigte Exklusivismus eine ausgewogene Sicht, die uns sagt, „weil es viele Blickwinkel gibt, gibt es viele Wahrheiten, und jede von ihnen ist gültig oder nicht gültig, abhängig vom jeweiligen Kontext“. Wie unterscheidet sich dann der gemäßigte Exklusivismus vom extremen Exklusivismus, d.h. Sektierertum? Im Gegensatz zum extremen Exklusivisten hat der gemäßigte Exklusivist kein Interesse daran, die Glauben anderer Traditionen zu kritisieren; es genügt ihm, lediglich darzulegen, was innerhalb der eigenen Schule des Denkens relevant ist oder nicht, ohne den Glauben anderer zu verunglimpfen. Wie kann jemand ein Sektierer sein, wenn er niemals die Religion einer anderen Person bewertet?

Buddha sagte: ‚Ein Mann hat einen Glauben. Wenn er sagt „Dies ist mein Glauben“, folgt er so weit der Wahrheit. Aber damit kann er nicht zur absoluten Schlussfolgerung gelangen: „Dies ist die einzige Wahrheit und alles andere ist falsch.“ ‚ Mit anderen Worten, eine Person kann glauben was sie will und sie mag sagen „Ich glaube dies“. So weit respektiert sie Wahrheit. Aber aufgrund dieses  Glaubens sollte sie nicht sagen, dass ihr Glaube die einzige Wahrheit ist und alles andere falsch ist. (Walpola Sri Rahula, quoting Canki Sutta, What The Buddha Taught, 2nd ed., p. 10, © 1959, 1974)

Der gemäßigte Exklusivismus ist immer mit gemäßigtem Inklusivismus gepaart, was bedeutet, dass es niemals ein einziges, allumfassendes Paradigma des Wissens gibt, sondern ein Glaube macht nur in einem gewissen Kontext Sinn oder nicht, wobei jeder Blickwinkel seine eigenen Kriterien hat um Wahrheit festzulegen. Was unter einem Umstand angebracht ist, mag in anderen Umständen unangebracht sein; was aus einem Blickwinkel Sinn macht, macht aus einem anderen vielleicht keinen Sinn.

Einer der Lehrsätze des extremen Inklusivismus ist, dass es überhaupt nichts Absolutes gibt. Da der extreme Inklusivismus keinen Standard anerkennt, mittels dem Wahrheit festgelegt werden kann, werden alle Glaubensarten in jedem Kontext als gleichermaßen gültig angesehen. Damit wird quer durch alle alle Blickwinkel gesagt „Es ist alles eines“. Der Synkretist sagt, dass letztendlich alle Religionen zu einer einzigen endgültigen Wahrheit verschmelzen. Um dies zu illustrieren wird oft das Beispiel eines großen Juwels mit vielen Facetten gegeben, so dass das Juwel unabhängig vom Blickwinkel immer genau gleich aussieht. Ich denke, dies ist zu sehr vereinfacht, denn diese Analogie hält nicht Stand, wenn wir ein weniger homogenes Objekt verwenden. Wenn wir z.B. Fernsehen schauen, wird allgemein angenommen, dass die Sicht von vorne der beste Blickwinkel ist, um den Bildschirm zu sehen. Wenn jemand die Rückseite des Gerätes anschauen würde um sein Lieblingsprogramm zu sehen, würde er wohl als lächerlich betrachtet werden! Jetzt gibt es aber Zeiten, zu denen es Sinn macht, die Rückseite des Fernsehers zu betrachten. Zwei Beispiele sind, wenn wir die technischen Herstellerangaben des Gerätes finden wollen, oder Anschlußbuchsen für das Videogerät suchen. Was richtig oder falsch ist, hängt von der Situation ab. Anhand dieser zwei Beispiele können wir verstehen, dass das Beispiel des Juwels nicht anwendbar ist, um zu zeigen, dass es überhaupt nichts Absolutes gibt, weil „alles relativ ist“. Was wir brauchen ist ein mittlerer Weg zwischen dem Denken, dass es überhaupt nur eine absolute Perspektive gibt, aus der die Dinge verstanden werden können, und dem Verwischen von Grenzen zwischen verschiedenen Perspektiven, bis der Wert von Perspektiven an sich als wertlos betrachtet wird.

Wie auch der gemäßigte Inklusivist, nimmt auch der extreme Inklusivist an, dass Wahrheit vom Kontext abhängt, aber er wechselt ohne Unterscheidungen zwischen dem Kontext, vielleicht um zu vermeiden, irgendetwas „falsch“ nennen zu müssen. (Diese Vorgehensweise, sich nicht festlegen zu wollen, mag auch der Ursprung für den radikalen Skeptizismus des extremen Inklusivisten sein, da er sich niemals auf eine bestimmte Perspektive festlegt, sondern eine nach der anderen aufgibt, wahrscheinlich, um es zu vermeiden, irgendetwas „richtig“ nennen zu müssen.) Ebenso ignoriert der extreme Exklusivist durch das Festhalten an Gewissheit die Abhängigkeit von Kontext; und durch das Festhalten an Ungewissheit verfällt der extreme Inklusivist in eine Überanwendung der Abhängigkeit von Kontext. Damit soll gesagt werden, dass der extreme Inklusivist niemals lange an irgendeinem Blickwinkel festhält, ihn bereitwillig fallen lässt und einen anderen einnimmt, um niemals einen unpopulären Standpunkt einzunehmen. Aber wenn Wahrheit von Kontext abhängig ist, dann kann sich die Gültigkeit oder Ungültigkeit jener Wahrheit sehr wohl ändern, wenn sich der Kontext ändert. Dies ist die Einsicht der gemäßigten Exklusivisten und gemäßigten Inklusivisten, die einen unterschiedlichen Kontext unterscheiden, um die Gültigkeit von Wahrheit festzulegen und Bewertungen in entsprechender Weise vornehmen. Der extreme Inklusivist zieht bei solchen Untersuchungen die Stirn in Falten und betrachtet sie als „wertend“; das angestrebte Ideal ist hier, in höchstem Maße neutral zu bleiben. Solche Neutralität kann nur erreicht werden, indem jede Behauptung einer Wahrheit verneint wird, falls sie nicht einen alles-beinhaltenden Standpunkt hat. Letztendlich vergisst der extreme Inklusivist, dass es keinen allgemeingültigen Maßstab für die Wahrheit gibt, welches exakt die gleiche Sichtweise des extremen Exklusivisten ist, den er widerlegen will!

Da es keinen unabhängigen Standard für alle moralischen Sichtweisen gibt, oder mittels dem sie nach Prioritäten geordnet werden können, sind einige Philosophen zum Schluss gekommen, dass alle solchen Sichtweisen gleich sind. Wir haben aufgezeigt, was an diesem Argument falsch ist. Nachdem sie gesagt haben, dass es keinen gemeinsamen Maßstab gibt, mit dem alle Sichtweisen bewertet werden können, widersprechen sie sich sofort selbst, indem sie sagen, dass sie alle gleich sind – was natürlich ein mögliches Ergebnis einer Messung ist, von der sie nicht glauben, dass sie möglich ist. (D. Z. Phillips, Introducing Philosophy: the Challenge of Scepticism, pp. 181-182, © 1996)

Die Kriterien für einen Blickwinkel können nicht der Maßstab für die Wahrheit eines anderen Blickwinkels sein, da es der relevante Kontext ist, der als die Grundlage des Wissens dient und einer Wahrheitsbehauptung seine Gültigkeit und Bedeutung gibt. Jede Religion spricht mit ihrer eigenen Autorität, deshalb sollte der Glaube einer Person für sich akzeptiert werden und individuell verstanden werden, nicht etwa in Bezug auf irgendeinen äußeren Standpunkt. Der gemäßigte Exklusivist erkennt, dass die eigene Tradition selbstgenügsam ist, d.h. „in sich ganz oder vollständig“. Das liegt daran, dass jeder spirituelle Pfad seine eigene Gültigkeit hat, und sich deshalb aus dem eigenen Glauben herauszubewegen, um zu sehen, ob er gegenüber anderen Weltanschauungen standhält kann unberechtigt sein. In der vergleichenden Religion enthüllen Ähnlichkeiten oft unerwartete Parallelen, aber unüberbrückbare Unterschiede müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Ironischerweise führt der Eklektizismus schließlich zu Sektierertum, da es das Mischen verschiedener Traditionen ist – indem die Kriterien für die Wahrheit ihrer individuellen  Perspektiven verwechselt werden – was Streitigkeiten fördert: Wessen Standard gilt, um festzulegen wer richtig und wer falsch ist? Bei dem Versuch, die unvermeidlichen Unterschiede zu überbrücken, muss es immer einen Verlierer geben…

Während wir unsere eigene Tradition schätzen, sollten wir alle anderen Traditionen schätzen und das Recht eines jeden einzelnen, der Tradition seiner Wahl zu folgen. Diese Vorgehensweise führt zu Harmonie und Toleranz. Es ist das Mischen verschiedener religiöser Traditionen, das zu Sektierertum führt. Darum wird gesagt, dass das Studieren nichtreligiöser Themen ein geringeres Hindernis für unseren spirituellen Fortschritt ist, als das Studieren von Religionen unterschiedlicher Traditionen. (Geshe Kelsang Gyatso, Den Geist Verstehen, S. 187)

Wenn sich zwei Leute nicht auf eine gemeinsame Referenzgrundlage einigen können, gibt es wirklich keine Basis für Vergleiche. In der Tat haben Individuen, die keine gemeinsame Grundlage teilen, keinen objektiven Standard, an den sie sich wenden können (außer ihrem eigenen!) und deshalb wird eine fortgesetzte Debatte sehr wahrscheinlich keinen Nutzen haben, und möglicherweise zu unnötigem Streit, zerbrochenen Beziehungen, religiöser Zurückweisung, Apartheid, Ausgrenzung und selbst offenem Konflikt führen. Es ist niemals richtig den Glauben von jemand anderem zu Bewerten, aber wir können der Richter dafür sein, was für uns richtig oder falsch ist. Während es angemessen ist, zu sagen: „ich glaube das nicht“, oder „dies ist nicht der richtige Ort für mich“, überschreitet man die Grenze, wenn man Fehler in der Religion einer anderen Person sucht und argumentiert: „Deren Glauben ist falsch!“, oder „Dein Glaube ist falsch!“ Es ist sehr wichtig, dass wir diesen subtilen Unterschied verstehen, da nur das Erstere Buddhas Verfügung gegen das Missionieren folgt (sei es jemanden zu „Meinem“ Glauben zu konvertieren, oder mittels Polemik den Glauben anderer zu beleidigen). Wenn sich jemand natürlich entschlossen hat, einer bestimmten Moral oder Lebensweise zu folgen, dann werden außen stehende Sichtweisen, die den eigenen widersprechen keine Optionen mehr für jemanden persönlich sein. Das liegt daran, weil gemäß der angenommenen Weltanschauung einige Glaubensarten anderer, für einen selbst nicht mehr zu rechtfertigen sind. Aber das gleiche gilt aus der Perspektive der anderen Person! Wenn es in beiden Richtungen funktioniert – wenn man übereinstimmen kann, nicht übereinzustimmen –  hat man eine wirkliche universale Toleranz und religiöse Freiheit, ohne die inneren Überzeugungen von jemanden beeinträchtigen zu müssen. Auf diese Weise ist es möglich, dass man sich an der aufrichtigen spirituellen Praxis anderer erfreuen kann, selbst wenn deren Glauben nicht mit dem eigenen übereinstimmt. Auf diese Weise ist das zufriedene Praktizieren der eigenen Tradition der mittlere Weg zwischen Sektierertum und Eklektizismus.

Jeder Lehrer und jede Tradition hat eine leicht andere Vorgehensweise und verwendet andere Methoden. Die Übungen, die von einem Lehrer vermittelt werden, werden sich von denen eines anderen Lehrers unterscheiden, und wenn wir versuchen, sie zu kombinieren, werden wir verwirrt, entwickeln Zweifel und verlieren die Orientierung. Wenn wir versuchen eine Synthese verschiedener Traditionen zu schaffen, werden wir die besondere Kraft jeder einzelnen zerstören und mit einem selbstgefertigten Mischmasch zurückbleiben, welches eine Quelle von Verwirrung und Zweifel ist. Wenn wir einmal unsere Tradition und unsere tägliche Praxis gewählt haben, sollten wir uns einsgerichtet darauf verlassen und niemals Unzufriedenheit entstehen lassen. (Geshe Kelsang Gyatso, Den Geist Verstehen, S. 187)

Es gibt Unterschiede zwischen Traditionen, weil jede ihren Ansatz hat Wahrheit zu finden, aber extremer Inklusivismus versucht diese Unterschiede zu beseitigen. Per Definition bringt uns der extreme Inklusivismus zu einem Punkt der Inklusivität (was auch das Ziel des gemäßigten Inklusivismus ist), aber als eine Form des Reduktionismus tut er das nur, indem er die aufrichtigen Unterschiede und Distanzen zwischen verschiedenen Leuten und Religionen ignoriert (welches nicht das Ziel des gemäßigten Inklusivismus ist). Um Harmonie zu bewahren müssen wir nicht jede Kluft überbrücken oder eine Einigung um jeden Preis erkaufen. Abgesehen davon wird etwas nicht zwangsläufig dadurch legitim, dass alle zu einer Einigung gebracht werden; Wahrheit ist nicht von Mehrheiten abhängig. Während man sagen kann, dass gemäßigter Inklusivismus und extremer Inklusivismus beide nichtsektiererisch sind, ist letzterer für die Erreichung dieses Zieles eher destruktiv. Oft als mittlerer Weg gepriesen, wird religiöser Eklektizismus (der leicht in Synkretismus abgleitet) als der einzige wahre Weg zu praktizieren angesehen und bedroht die Integrität der individuellen religiösen Traditionen (folglich auch die selbstbewusste Bewahrung der Grenzen des gemäßigten Exklusivismus). Der einzige Weg, verschiedene Traditionen zu einer einzigen zu integrieren, besteht darin die außergewöhnlichen guten Qualitäten, Werte und Prinzipien zu entfernen, die jeder ihre einzigartige Identität geben und für ihre Praktizierenden große Bedeutung haben. Dies geschieht insbesondere, wenn ein integraler Bestandteil einer Tradition als „unvereinbar“ mit anderen betrachtet wird, d.h. nicht im gemeinsamen Interesse. Von politischer Korrektheit getrieben, diktiert der monomanische Imperativ des Synkretismus, dass es keinen Raum für Meinungsverschiedenheit gibt. Auf diese Weise offenbart sich der extreme Inklusivismus selbst als ein sich selbst widerlegender Idealismus: er lobt sich selbst dafür, alle zu akzeptieren, aber in Wirklichkeit brütet er seine eigene Form des Absolutismus aus. Dies kann kaum eine Einstellung des mittleren Weges sein.

* Es sollte angemerkt werden, dass die meisten Formen des Eklektizismus empfehlenswert sind. Beispielsweise haben die meisten Menschen einen eklektischen Geschmack in ihrem Essen und ihrer Musik, sowie verschiedene Interessen in Literatur und Kunst. Auch Wissenschaft und Psychologie, Elemente von wetteifernden Theorien, werden oft verwendet um unterschiedliche Phänomene zu erklären. Im Gegensatz dazu sind die Weltreligionen nicht im Wettstreit miteinander – jede ist in ihrer Art vollkommen. Der religiöse Eklektizismus nimmt aber an, dass „keine“ Religion vollständig ist, sondern dass etwas fehlt, das von woanders her zugefügt werden muss. Der spirituelle Eklektiker behauptet auch, unterscheiden zu können, zwischen den Teilen einer jeden Religion, die gänzlich als unwichtig verworfen werden können. Die Realität ist, dass die Unterweisungen in jeder Religion eng miteinander verwoben sind, wie ein kunstvoller Teppich, und wenn man anfängt auch nur an einem Faden zu ziehen, der einem nicht gefällt, dann löst man den ganzen Teppich auf.

© 2007-2009 Michael-James B. Weaver

Begriffe:

Agnostizismus: „nicht wissen, unbekannt, unerkennbar“; bezeichnet die philosophische Ansicht, dass bestimmte Annahmen – insbesondere theologischer Art, welche die Existenz oder Nichtexistenz eines höheren Wesens wie beispielsweise eines Gottes betreffen – entweder ungeklärt, grundsätzlich nicht zu klären oder für das Leben irrelevant sind.

Eklektizismus:  („ausgewählt“) In den Geisteswissenschaften charakterisiert der Begriff die Methode, aus Versatzstücken unterschiedlicher Systeme, Theorien oder Weltanschauungen eine neue Einheit zu bilden.

Synkretịsmus: in der Philosophie die unkritische Übernahme von Denkansätzen und Lehren  (Eklektizismus) und ihre oft bestimmten Zeitgeistströmungen folgende Verschmelzung; in der Religionsgeschichte die Verschmelzung verschiedener Religionen beziehungsweise einzelner Elemente von ihnen.

Paradigma: „zeigen“, „begreiflich machen“;  bedeutet Beispiel, Muster, Vorbild, oder Abgrenzung, Vorurteil.